Morgen wird in Georgien ein neues Parlament gewählt und es wird sich entscheiden, ob Georgien den Kurs in Richtung eines immer autoritäreren Regimes fortsetzt oder sich (wieder) der proeuropäischen und demokratischen Seite zuwendet.
Ich versuche euch mal ein wenig mitzunehmen, was hier gerade so los ist.
Die Politik in Georgien wird seit 2012 nach dem Ende der Saakashvili- (სააკაშვილი-) Ära von der zunächst als Bündnis verschiedener Bewegungen angetretenen, längst aber zu einer Partei geformten Regierungspartei „Georgischer Traum“ (ქართული ოცნება) bestimmt. Im Grunde wiederholt sich in Georgien ein Muster. Bisher gab es drei lange Zeiträume, die von einer Person geprägt waren: Eduard Shevardnadze (ედუარდ შევარდნაძე) von 1995-2003. Dann folgte die sogenannte „Rosenrevolution“ und Mikheil Saakashvili (მიხეილ სააკაშვილი) wurde Präsident (2004-2013). Schon 2012 hatte er bei den Parlamentswahlen deftig verloren an den Georgischen Traum (ქართული ოცნება) und dessen Oppositionsführer Bidsina Ivanishvili (ბიძინს ივანიშვილი). Jedes Mal ging die Regierung nicht freiweillig. Dazu muss man wissen, dass Georgien bis 2013 eine präsidentielles System hatte (wie z.B. in Frankreich), der Präsident also ziemlich viele Befugnisse hatte. 2013 gab es, durch Saakashvili (სააკაშვილი) vorangetrieben, eine Verfassungsreform, die die Rechte des Parlaments stärkten und das System deutlich parlamentarisierten (so wie wir es von Deutschland kennen).1 Das scheint auf den ersten Blick demokratieförderlich, war allerdings eher eine Maßnahme des Machterhalts von Saakashvili (სააკაშვილი), da dieser nach zwei Amtsperioden als Präsident nicht erneut antreten durfte. Jedoch erhielt er eine deftige Niederlage bei den Parlamentswahlen 2012 und musste so das politische Feld verlassen. Aktuell sitzt er wegen Amtsmissbrauchs im Gefängnis, was unter anderem vom Europäischen Parlament kritisiert wird, weil man politische Motive hinter der Inhaftierung vermutet. Auch das Ende der Shevardnadze-Ära (შევარდნაძე) verlief nicht reibungslos. Im November 2003 gewann seine Partei die Parlamentswahl, jedoch gab es immense Vorwürfe des Wahlbetrugs von Seiten der Opposition und internationalen Wahlbeobachtern. Daraufhin gab es riesige Proteste, die in der Stürmung des Parlaments und der Staatskanzlei gipfelten. Obwohl Shevardnadze (შევარდნაძე) den Ausnahmezustand ausgerufen hatte, verzichtete er, die Armee gegen Demonstrant*innen einzusetzen, und nahm seinen Hut. Aus dieser „Rosenrevolution“ (ვარდების რევოლუცია), bzw. den folgenden Wahlen, ging Mikheil Saakashvili (მიხეილ სააკაშვილი) als neuer Präsident hervor.
Die aktuelle Lage hat eine meiner Professor*innen mit der Lage vor der Rosenrevolution (ვარდების რევოლუცია) verglichen. Am vergangenen Sonntag gab es eine riesige proeuropäische Demonstration auf dem Liberty Square, einem der größten Plätze Georgiens. Meiner Einschätzung nach dürften mindestens 100.000 Menschen dieser Demonstration beigewohnt haben, in der Tagesschau wurde von Zehntausenden Demonstrant*innen berichtet. Es gab – im Gegensatz zu den Protesten gegen das Agentengesetz im Frühjahr – keine mir sichtbare Gewalt gegen Demonstrierende, überhaupt gab es nur sehr wenig Polizeipräsenz. Am Dienstag dann fand die zentrale Kundgebung des Georgischen Traums (ქართული ოცნება) statt, zu der Menschen aus ganz Georgien angekarrt wurden (siehe Bilder). Ich habe Berichte gehört, dass Menschen teilweise gezwungen wurden, mitzufahren. Da ging es zum Beispiel um vom Staat abhängig Beschäftigte wie Lehrer*innen (so habe ich es verstanden). Unabhängig prüfen konnte ich diese Berichte nicht. Mehr zur Demonstration kann man hier lesen.
Doch warum ist die Lage so ähnlich zur Rosenrevolution (ვარდების რევოლუცია)? Es gibt große Proteste gegen die Regierungspartei und die Opposition (und auch das Europäische Parlament) befürchten Wahlmanipulationen von Seiten der Regierung. Außerdem hat sich die Regierungspartei immer mehr in eine autoritäre, machterhaltene Richtung entwickelt. So trat kürzlich das umstrittene Gesetz gegen die LGBTQ*-Community in Kraft, das noch viel mehr umstrittene „Agentengesetz“ ist es bereits. Beide Gesetze weisen deutliche Parallelen zur autoritären Gesetzgebung in Russland auf. Zudem kündigt der zentrale Mann hinter dem Georgischen Traum (საქართული ოცნება), der Oligarch Bidsina Ivanishvili (ბიძინა ივანიშვილი)2, offen an, nach der Wahl die Oppositionsparteien verbieten zu wollen (mit Verweis auf die Nürnberger Prozesse). Schon jetzt findet systematische Gewalt gegen oppositionelle Gruppen statt. Zudem ist ein Amtsenthebungsverfahren gegen die proeuropäische Präsidentin Salome Zurabishvili (სალომე ზურაბიშვილი) geplant.
Kurios scheint, dass 80 % der Georgier*innen nach wie vor in die EU wollen. Wie passt das mit einer Wahl für den Georgischen Traum (ქართული ოცნება) zusammen?
Die Bedrohung durch Russland ist für Georgien sehr real. Kurz hinter der Grenze zu Südossetien, einem der zwei von Russland besetzten Gebiete, stehen schon russische Panzer (wurde mir so erzählt). Die Angst, dass Georgien eine Ukraine 2.0 wird, ist vorhanden und groß. Und Widerstand wäre weitestgehend zwecklos, denn Georgien hat lediglich 3,7 Millionen Einwohner*innen – die Ukraine ist zehnmal so groß. Das Land ist viel kleiner, eine Blitzkriegtaktik wäre also viel schneller erfolgreich – und am Anfang des Ukraine-Kriegs konnte eine Niederlage der Ukraine ja auch nur sehr knapp abgewendet werden. Aus diesem Grund scheint der Georgische Traum (ქართული ოცნება) wohl für viele Wähler*innen als die Alternative, die sich europäisch orientiert (aber eben nicht zur EU), aber ohne Russland zu vergraulen. Außerdem gibt es Gerüchte, dass Ivanishvili (ივანიშვილი) mit Russland in Verhandlungen über die Wiedereingliederung der abtrünnigen Gebiete steht. Was da dran ist, kann ich nicht beurteilen.
Kein Wunder also, dass ein zentrales Wahlkampfthema der Ukraine-Krieg ist bzw. der Transfer auf die georgische Situation. Der Georgische Traum (ქართული ოცნება) plakatiert zerstörte ukrainische Stadien, Autobahnen, Schulen und stellt sie gut aussehenden und modernisierten georgischen gegenüber. Links die kriegstreiberischen Oppositionsparteien, rechts die friedenserhaltende Regierung. Krieg und Frieden a la George Orwell.
Ich hab mal ein paar Artikel verlinkt, die sich nun in deutschsprachigen Medien aufgrund der Wahl etwas häufen. Sonstige deutsche Berichterstattung findet quasi nicht statt.
Repression in Georgien: Warten, bis der Greiftrupp wieder kommt. Ausführlichere Reportage über Repressionen gegenüber der Opposition.
Interview: Georgien: Angst vor der „autoritären Wende“. Der bisher beste Beitrag hinsichtlich des Erklärungsgehalts der Wahl-Situation.
Georgien wählt am Abgrund: „Wofür Putin Jahre gebraucht hat, machen sie in zwei Monaten“. Ebenfalls sehr gut!
Georgien wählt: Ruhe vor dem Sturm? Sehr toller Hintergrundartikel der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Bidsina Iwanischwili: Reichster und mächtigster Mann Georgiens. Wie der Name schon andeutet ein Porträt über Ivanishvili.
Vor Parlamentswahlen in Georgien. Ost gegen West. Ebenfalls sehr ausführlicher Artikel in der taz.
Aktuelle Empfehlungen
Lied: Zikaden im Wind (FloBêr). Bernard und Flo hab ich auf dem Peter-Rohland-Singewettstreit kennengelernt, da kannte ich FloBêr schon. Vor allem über unsere Liebe zu Gundi (ostdeutscher Liedermacher) haben wir uns schnell gut verstanden und angefreundet. Zikaden im Wind ging mir diese Woche öfter durch den Kopf und ist von Christian.
Band: Noice. Neles Bruder singt bei denen Bariton und die sind ganz toll. Hört einfach mal rein.
Fußnoten
Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass ich kein Experte des georgischen Regierungssystems bin. Es handelt sich um eine alltagstaugliche Einordnung, die nicht den Anspruch hat, politikwissenschaftlich korrekt zu sein (ist sie nämlich vermutlich nicht).↩︎
Nur fürs Gefühl: Der hat so viel Geld wie der gesamte georgische Staatshaushalt.↩︎