Proteste

Georgien
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Autor:in

žuk

Veröffentlichungsdatum

1. Dezember 2024

Um ehrlich zu sein, fühle ich mich nicht wirklich befähigt, über die Situation hier vor Ort zu schreiben. Denn ich wohne zwar hier in Tbilisi (თბილისი), aber Saburtalo (საბურთალო) ist dann doch sehr außerhalb und abgelegen. Man kann hier sehr gut wohnen und leben und gar nichts von all dem da draußen mitbekommen.

Hinweis

Ich werde auf meinem Blog keine externen Bilder von Gewalt teilen oder publizieren. Ich finde es in der konkreten Situation schwierig, externe Bilder zu verwenden, wenn ich diese nicht explizit und hinreichend auf Wahrhaftigkeit prüfen kann. Deswegen verweise ich weiter unten auf Quellen, wo (in erster Linie) Polizeigewalt dokumentiert wird. Außerdem möchte ich mich möglichst nicht in Gefahr begeben und deswegen hoffentlich einfach gar nicht erst selbst damit in Kontakt kommen.

Falls es mal dazu kommen sollte, dass ich Bilder von (Polizei-)Gewalt teile, werde ich per Triggerwarnung die Möglichkeit geben, sich dem gut entziehen zu können. Ich weiß, dass es unter euch Menschen gibt, die vermutlich Polizeigewalt erfahren haben und möchte da sensibel sein. Und auch Gewalt generell kann ein großer Trigger sein.

Aber ich will euch ja doch irgendwie auf dem Laufenden halten, deswegen probiere ich es mal. Bitte berücksichtigt beim Lesen unbedingt meine Perspektive. Ich kann auch nur das rezipieren, von dem ich weiß und dem ich mehr oder weniger vertraue. Das sind vor allem oppositionsnahe Medien, die Gruppe des Erasmus Student Networks (ESN) meine eigenen Augen und meine Einschätzung.

Im Moment gibt es, soweit ich das überblicke, jeden Tag Proteste vorm Parlament. Damit ihr euch das etwas mehr vorstellen könnt, hab ich euch mal die Openstreetmap gescreenshotet:

„R“ ist die Metro-Station Rustaveli, „L“ der Liberty Square (ebenfalls auch Metro-Station), das rote X ist das Parlamentsgebäude. Die Straße heißt Rustaveli Avenue und ist die Prachtstraße in Tbilisi (თბილისი). Sie ist vor allem für Autos gebaut und hat insgesamt sechs Spuren.

Die Proteste beginnen meist so ab circa 18 Uhr und gehen bis tief in die Nacht (teilweise 4 Uhr morgens). Am Anfang sind recht wenige (einige Hundert bis Tausende) Menschen da, aber ab 19/20 Uhr füllt es sich sehr. Ich kann nicht einschätzen, wie viele es genau sind, da die Fluktuation hoch ist, also ständig Leute kommen und gehen, und viele auch erst sehr spät kommen, wenn es „richtig“ losgeht. Ich vermute, diese Einschätzung gilt für die viele / die meisten Tage, aber sicher sagen kann ich es nicht. Sie beruhen unter anderem auf meinem Protest-Besuch gestern und auf den Mitteilungen aus einem Telegramkanal der Protestbewegung und der ESN-Gruppe.

19 Uhr. Die ersten Menschen trudeln sich am Parlament ein. Das ist übrigens in den letzten Wochen extremst beschmiert worden.

Es wirkt auf mich so, dass am Anfang der Protest sehr friedlich ist und dann sich Stück für Stück aufputscht. Mir geht es im Folgenden auf keinen Fall darum, Vorwürfe zu machen, sondern ich versuche so objektiv, wie das in dieser Situation nunmal geht, das zu beschreiben, was ich wahrnehme.

Böller explodieren hinter der Stahlwand des Parlaments.

Bei den Demonstrierenden gibt es unglaublich viel Frust und Wut auf die Regierung. Es wird an die Stahlwand am Parlament geklopft, vermutlich mit Steinen. Erste Böller werden hinter die Stahlwand geworfen. Das Parlament ist leer beziehungsweise es sind keine Lichter an der Front zu sehen, ich gehe nicht davon aus, dass sich Menschen hinter der Stahlwand befinden. Die Polizei verschärft irgendwann das Aufgebot und geht mit Wasserwerfern, Tränengas und Gewalt gegen Demonstrierende vor. Auf Instagram kursieren erschreckenste Videos, wie Menschen bewusstlos geschlagen werden und wie auf sie eingetreten wird, obwohl sie längst wehrlos am Boden liegen. Es gibt Barrikaden der Demonstrierenden auf der Rustaveli Avenue und es werden auch Feuerwerkskörper in Richtung der Polizei geschossen. Es sind brennende Barrikaden zu sehen. Gestern hat es wohl auch im Parlament gebrannt. Während der Proteste sind die oppositionsnahen (bis unabhängigen ?) Medien vor Ort und filmen sehr viel. Fotos und Videomaterial landet sehr schnell auf Social Media wie Instagram, zum Beispiel auf Aprili Media (Georgisch, aber die interne Übersetzungsfunktion von Instagram sollte gut helfen) oder OC Media (Englisch).

Warnung

Achtung! Auf diesen Kanälen ist massive Gewalt und Polizeigewalt zu sehen. Bitte seid euch dessen unbedingt bewusst, wenn ihr auf die Links klickt!

Der Protest verlagert sich gerne auch Richtung Rustaveli Metro-Station, Liberty Square und auf andere wichtige Verkehrsachsen der Stadt.

Soweit zu meinen Beobachtungen und meinem Medienkonsum. Ich möchte betonen, dass ich weder Polizeigewalt am eigenen Leib erfahren, noch mit eigenen Augen gesehen habe. Meiner Einschätzung nach sind die oben genannten Kanäle aber mindestens bezüglich der konkreten Vorfälle vertrauenswürdig. Solche Szenen spielen sich demnach quasi täglich in der Stadt ab und sind folgerichtig keinesfalls Einzelfälle. Trotzdem möchte ich darauf hinweisen, dass unabhängige und objektive Berichterstattung in Extremsituationen wie diesen kaum möglich ist.

Um 19.48 Uhr ist das Polizeiaufgebot (hier links neben dem Parlament) noch sehr überschaubar.

Es ist ziemlich grausam und furchtbar, was dieser Tage in თბილისი (Tbilisi) passiert. Niemand weiß, wie das ausgehen wird. Gleichzeitig bin ich sehr froh, dass die Georgier*innen den Wahlbetrug und die Schikanierungen nicht über sich ergehen lassen.1 Ich werde weiter beobachten und das auf jeden Fall so tun, dass es ein möglichst geringes Risiko für meine Person gibt.

Fußnoten

  1. Proteste und Revolutionen sind immer Minderheitenbewegungen, selbst wenn sie von einer Mehrheit innerlich gestützt sein könnten. Es sollte klar sein, dass hier gerade nicht die Mehrheit Georgiens geschweige denn Tbilisis (თბილისის) gegen die Regierung kämpft.↩︎